In Berlin gibt es seit Juni 2021 ein neues historisches Dokumentationszentrum, das als Lern- und Erinnerungsort die Zwangsmigration in Geschichte und Gegenwart ins Zentrum seiner Ausstellung stellt.
Es gibt wohl nur wenig mehr Leid, das Menschen ihren Mitmenschen antun können, als sie gewaltsam aus ihrer Heimat zu vertreiben. Und doch ist genau das häufige Folge von kriegerischen Auseinandersetzungen – beginnend in der Antike und in der Gegenwart nicht endend.
Zu den bekanntesten historischen Fällen der, wie man heute gerne sagt, ethnischen Säuberungen zählen z. B. das Babylonische Exil der Israeliten (598-539 v. Chr.), die Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich (ab 1661), die Zwangsumsiedlung der Indianer in Nordamerika (1800-1865), die Vertreibung und der Völkermord der Armenier im Osmanischen Reich (1915) und auch die sogenannte Umsiedlung der Ostdeutschen nach dem zweiten Weltkrieg (ab 1945).
In Berlin zeichnet seit Sommer letzten Jahres nun das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung als Deutschlands einziger Lern- und Erinnerungsort die Geschichte der Zwangsmigration auf.
Direktorin Dr. Gundula Bavendamm erläutert die Aufgabe, der man sich dabei stellt: „Im Dokumentationszentrum geht es um Flucht und Vertreibung der Deutschen, aber auch um die vielen anderen Menschen, die Zwangsmigration erleben mussten und bis heute erleben. Im Geist der Versöhnung schließen wir damit eine Lücke in der deutschen Erinnerungskultur. Wir sagen: Vertreibungen sind ein Unrecht und benennen die Verursacher des Leids. Unsere Empathie gilt allen Flüchtlingen und Vertriebenen. Historische und politische Phänomene werden sachlich und auf dem Boden der Wissenschaft erklärt. Auf diese Weise wirken wir Polarisierungen, aber auch Relativierungen entgegen. Das neue Haus versteht sich als ein Diskussionsangebot für alle Interessierten.“
Auf über 5.000 m2 Ausstellungsfläche präsentiert das Museum Objekte zum Thema. Neben der europäischen Geschichte der Vertreibung steht besonders die Vertreibung von 14 Mio. Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg im Fokus.
Wir sagen: Vertreibungen sind ein Unrecht und benennen die Verursacher des Leids.
Direktorin Dr. Gundula Bavendamm
Das Museum, das aus dem historischen Deutschlandhaus und einem angegliederten lichtstarken Neubau besteht, liegt an der Stresemannstraße Ecke Anhalter Straße in der Nähe der Ruine des ehemaligen Anhalter Bahnhofs.
Die Dauerausstellung ist mehrgliedrig aufgebaut: Das Obergeschoss dokumentiert vor allem die europäische Geschichte der Zwangsumsiedlung mittels sechs unabhängiger Themeninseln als Einführung. Filme, Bilder und Objekte machen die Erfahrungen von Flüchtlingen und Vertriebenen unmittelbar anschaulich. Zahlreiche Beispiele aus dem 20. Jh. bis heute werfen dabei ein grelles Licht auf diese Art der Gewalt: Der Pass einer deutschen Jüdin mit einem aufgestempelten „J“, das Tagebuch eines jungen Mädchens aus Ostpreußen über erlittene sexuelle Gewalt, das Foto eines Theaters in Athen, das als Flüchtlingslager dient oder das Smartphone eines Syrers.
Dabei versucht das Haus, Antworten auf diverse Fragen zu geben: Warum sind Minderheiten besonders oft von Vertreibungen betroffen? Welche Erfahrungen machen Flüchtlinge und Vertriebene auf ihrer Flucht? Was bedeutet das Leben in Lagern? Wie gelingt nach dem Verlust der Heimat ein Neuanfang? Und warum ist die Erinnerung an Zwangsmigrationen oft so umstritten?
Im zweiten Obergeschoss konzentriert man sich dann auf die Flucht und Vertreibung der Deutschen. Ein Rundgang führt chronologisch durch drei unterschiedliche Themenbereiche. Projektionen an den Wänden heben dabei Einzel- bzw. Familienschicksale hervor.
Im ersten Block fokussiert man sich u. a. die NS-Besatzungspolitik, die Planungen der Alliierten für die Vertreibung der Deutschen und die Flucht vor der Roten Armee.
Der zweite Abschnitt dokumentiert die Vertreibung als Mittel zur politischen Neuordnung Ost- und Mitteleuropas nach dem Weltkrieg. Neben den 14 Mio. Deutschen mussten auch Millionen Menschen aus Polen, der Ukraine und Weißrussland ihre jeweilige Heimat verlassen. Rund 500 Exponate aus der Sammlung sowie 45 internationale Leihgaben führen dabei die menschlichen Schicksale lebendig vor Augen.
Im dritten Block geht es vor allem um die Integration der Millionen Deutschen – die mit ihren wenigen Habseligkeiten, die sie mitnehmen konnten oder durften, von Ost nach West wanderten – in die Bundesrepublik und die DDR. Damals wie heute stießen dabei die Fremden nicht immer auf Gegenliebe bei ihren neuen Nachbarn.
Schlusspunkt setzt ein Epilog, der u. a. die Wiederkehr der sogenannten ethnischen Säuberungen in Europa – Beispiel Jugoslawien-Kriege – und die Gründungsgeschichte des Museums thematisiert.
Im Erdgeschoss stehen zudem 400 m2 für Sonderausstellungen bereit. Die aktuelle wird zurzeit gerade abgebaut. Was hier im Frühjahr 2023 präsentiert werden soll, steht noch nicht fest. Eine Bibliothek und ein Zeitzeugenarchiv runden inhaltlich das Angebot ab. Ebenso gibt es einen Shop mit Fachliteratur, Geschenkartikeln und Souvenirs sowie ein Restaurant.
Das Haus ist barrierefrei. Der Eintritt ist frei. Bei Gruppen ab 10 Pers. wird um Anmeldung gebeten (gruppen@f-v-v.de). Haltepunkte für Omnibusse finden sich in der Anhalter Straße vor dem Museum.
Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Stresemannstraße 90,
10963 Berlin, www.flucht-vertreibung-versoehnung.de/de/bildungsangebote/fuehrungen-gruppen.
Hintergrund Dokumentationszentrum
Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist der Träger des Dokumentationszentrums. Sie ist eine Stiftung des öffentlichen Rechts und wird durch das Staatsministerium für Kultur und Medien gefördert. Als unselbstständige Stiftung steht sie in Trägerschaft der Stiftung Deutsches Historisches Museum.
Bild: Handwagen und polnischer Vertreibungsbefehl aus der Stadt Bad Salzbrunn vom 14.7.1945
Bildquelle: Foto: Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung/Markus Gröteke
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