GrimmHeimat Nordhessen: Kulturschätze in Deutschlands Mitte

Eine Zeitreise mit Wortakrobaten, Widerstandskämpfern, „Kuppelknechten“ und zwei Märchenonkeln

Wer hätte das gedacht? Na klar, Kassel, die Gebrüder Grimm, aber gleich so eine Vielfalt an Kulturschätzen in Nordhessen! Die Teilnehmer der Infotour „Industriekultur – Erinnerungskultur – Sprachkultur“ im Sommer 2022 waren gut beschäftigt, um die Museen, Gebäude und handelnden Personen in der Mitte Deutschlands kennenzulernen und ihre Bedeutung für die Kultur der Region und weit darüber hinaus zu schätzen.


Wie schön, dass man in Deutschland immer wieder neue und vermeintliche weniger bekannte Ecken und Einrichtungen kennenlernen kann und darf. Dazu muss man sich natürlich in Bewegung setzen und vor Ort sein. Wenn man dazu eingeladen wird, fällt die Lust auf Erweiterung des eigenen Erfahrungshorizonts natürlich leichter. Aber dazu muss in Zeiten von Corona, Krieg und Preisanstieg jemand den „Mumm“ haben, eine Infotour auch durchzuziehen. Daran hat es der GrimmHeimat Nordhessen bereits 2021 („Mythos Wald“) nicht gemangelt. Und 2022 ging es gleich doppelt in Nordhessen zur Sache, Busmagazin war in beiden Fällen (s. BM-Ausgabe 8-9/2022, „Nationalpark Kellerwald-Edersee“, S. 28-29) mit dabei.


Mit an Bord seitens der Veranstalter waren neben der GrimmHeimat Nordhessen auch Kassel Marketing, die Kur- und Festspielstadt Bad Hersfeld und das Mittlere Fuldatal. Den Anfang machte Bad Hersfeld, die bis ins 8. Jh. zurückreichende Stadt ist überregional vor allem durch die Bad Hersfelder Festspiele in der Stiftsruine bekannt. Weltweite Bedeutung erlangten zudem Konrad Zuse, der in Bad Hersfeld den ersten Computer Z1 erfand, sowie der frühere Direktor des Bad Hersfelder Gymnasiums. Während seiner 29-jährigen Dienstzeit als Schulleiter brachte Konrad Duden im 19. Jh. sein „Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ heraus. Und was macht Bad Hersfeld mit diesen historischen Steilvorlagen in Sachen Sprachen und Kommunikation? Die Stadt kultiviert sie, modifiziert diese und fügt ihnen neue, spannende sowie unterhaltsame Kapitel hinzu.

Bühne frei und wortreich in Bad Hersfeld

Das „wortreich“ ist unsere erste Station auf der Infotour. Deutschlands einziges Mitmach-Museum für Sprache und Kultur ist im historischen Schild-Park, einem ehemaligen Industriegelände untergebracht. Von außen ein Hingucker und von innen ein Tummelplatz für Wortakrobaten aller Altersklassen. Über 90 Mitmach-Stationen auf mehr als 1200 m2 Ausstellungsfläche sorgen für abwechslungsreiche Unterhaltung mit allen Sinnen. Von spielerisch über sportlich bis zu sprachgewandt reicht die Palette der Exponate, die mal einfach und auch mal mit Nachdenken und Ausprobieren zu begreifen sind. So stellen sich die Gäste in der SMS-Box selbst auf die Probe, ob sie mit der Jugendsprache noch mitkommen oder dass die Abkürzungen MfG und MFG völlig unterschiedliche Bedeutungen haben –„Mit freundlichen Grüßen“ bzw. Mitfahrgelegenheit. Im Tierstimmen-Imitator oder bei der Theaterkaraoke an der Station Festivalbühne geht es heiter zu, während bei Mindball Konzentration angesagt ist. Läuft – wenn man allein durch gedankliche Fokussierung einen Ball bewegt und diesen im Feld seines ebenfalls hochkonzentrierten Gegenübers unterbringen kann.

Rathaus in Bad Hersfeld


Fazit: Die Ausstellung macht Spaß, die Zeit vergeht wie im Fluge, man erfährt nicht nur Wissenswertes über Sprache und Kommunikation, sondern auch Einiges über sich selbst. Das wortreich gibt es seit 2011, die Erlebniswelt ist komplett barrierefrei und mit einem Shop sowie Sitzgelegenheiten im Foyer ausgestattet. Gruppen ab 15 Personen zahlen 8,50 Euro p.P. Eintritt. Zudem gibt es jeweils zweistündige Angebote wie „wortreich Abend“ oder „exklusive wortreich-Tour“ mit Eintritt bzw. Führung durch die Ausstellung und Begrüßungssekt auch außerhalb der Öffnungszeiten. Als „wortreiches Teambuilding“ oder „wortreich kulinarisch“ sind weitere Pakete zum Preis ab 55 Euro p.P. mit Teambuilding in der Ausstellung bzw. ab 75 Euro p.P. mit Auswahl an Fingerfood und Getränken zwischen den Exponaten buchbar. Weitere Informationen unter Tel. 06621/794890, info@wortreich-badhersfeld.de, www.wortreich-badhersfeld.de.


Die Fußgängerzone mit dem Rathaus im Stil der Weserrenaissance sowie ein umfangreiches Hotel- und Gastronomieangebot befinden sich in unmittelbarer Nähe des wortreich. Und so ist auch ein weiterer Garant für Kulturgenuss sowie virtuosem Umgang mit Sprache und Kommunikation in nur wenigen Fußminuten erreicht. Die Stiftsruine gilt als größte romanische Kirchenruine nördlich der Alpen und ist in den Sommermonaten seit mehr als 70 Jahren Schauplatz der Bad Hersfelder Festspiele mit Highlights aus Theater, Musical und Aufführungen für Kinder. Unsere Gruppe durfte den Blick hinter die Kulissen hautnah erleben bei einer Besprechung von Intendant Joern Hinkel mit seinem Team im Rahmen der Probensaison. 2022 stand u.a. „Notre Dame“ nach Victor Hugo mit einem Staraufgebot – u.a. Richy Müller, Walter Plathe, Anouschka Renzi und Jürgen Hartmann – auf dem Programm. Ein „Hauptdarsteller“ ist immer mit von der Partie, auch bei den 72. Bad Hersfelder Festspielen im kommenden Jahr. Informationen und Tickets unter Tel. 06621/640200, ticket-service@bad-hersfelder-festspiele.de, www.bad-hersfelder-festspiele.de. Denn die Stiftsruine sorgt selbst dann für Staunen, wenn auf der Freilichtbühne kein Applaus aufbrandet. Von Di. bis So. 10 bis 16 Uhr kann das Gebäude außerhalb der Festspielsaison besichtigt werden.

Bebra: Geschichtsträchtiges Schloss und Bahnhofsgebäude

Unsere Besichtigungstour führt uns weiter nach Bebra, wo ebenfalls zwei Kulturschätze auf uns warten. Der erste ist eng mit Adam von Trott verbunden. In Bebra-Imshausen, eingebettet von Wiesen und Wäldern, dient der historische Sitz der Familie von Trott zu Solz heute als Heimat der Stiftung Adam von Trott und gedenkt damit eines der wichtigsten NS-Widerstandskämpfer im Dritten Reich. Adam von Trott war als Mitglied des Kreisauer Kreises auch in die Pläne zum Umsturz der Regierung durch seinen Freund Claus Graf Schenck von Stauffenberg involviert und wurde nach dem missglückten Attentat auf Hitler im Sommer 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Historische Sitz der Familie von Trott zu Solz – heute die Heimat der Stiftung Adam von Trott


Die Dauerausstellung mit interaktiven Medienstationen, Filmen, Bildern, Texten und Exponaten aus dem Besitz von Trotts vermittelt einen Einblick in die Lebensgeschichte und das besondere Schicksal des NS-Widerstandskämpfers. Imshausen versteht sich aber nicht nur als Ort der Erinnerung, sondern als Ort der Begegnung. Der historische Familiensitz ist ein Lernort und Treffpunkt für Besucher aller Altersklassen, die in dem idyllisch gelegenen Anwesen nicht nur tagen, diskutieren oder feiern, sondern auch übernachten können. Dazu stehen 54 Betten in 34 Zimmern verteilt auf drei Häuser, drei Seminarräume und ein großer Tagungssaal mit neuester Technik zur Verfügung. Imshausen ist definitiv ein Ort, den viele Besucher zum ersten Mal in ihrem Leben gehört haben, der aber bleibende Erinnerungen hervorruft. Weitere Informationen unter Tel. 06622/42440, kontakt@stiftung-von-trott.de.


Gut erholt und frisch gestärkt geht es am Morgen ins wenige Kilometer entfernte Bebra zu einem weiteren historisch bedeutsamen Denkmal – und zugleich einer Station auf unsere Tour, die schon immer ein Ort der Begegnung war. Gemeint ist das Bahnhof Bebra, der – 1848 als kleine Bahnstation erbaut – erst als Knotenpunkt im Kaiserreich und später als Grenzstation im Kalten Krieg überregionale Berühmtheit erlangte. Eine lokale Berühmtheit begrüßt unsere Gruppe und führt uns durch den geschichtsträchtigen Ort. Peter Kehm weiß alles über das Industriedenkmal in seiner Heimatstadt. Der Diplom-Ingenieur und heutige „(Un-)Ruheständler“ wurde nach Schlosserlehre, Maschinenbau-Studium, Ausbildung zum Lokomotivführer u.a. Gruppenleiter im technischen Wagenbetrieb, Rangierleiter (im Bahnjargon„Kuppelknecht“ bzw. Chef derselben) und Ausbilder für Wagenmeister sowie neben Personalrat auch noch Lehrer in Bebra und Kassel.

Kehms Vorfahren haben seit vier Generationen für die Bahn gearbeitet, eigentlich müsste man ihn fragen, welche Position außer Bahnchef ein Kehm bei der Bahn noch nicht bekleidet hat. Wenig verwunderlich, dass die Deutsche Gesellschaft für Eisenbahngeschichte (DGEG) ihn gesucht und gefunden hat, um ein Buch über den Bebraer Bahnhof zu schreiben. Drei Jahre hat er an dem Mammutwerk mit über 350 Bildern, unzähligen Geschichten und Anekdoten gearbeitet, jetzt kommen wir in den Genuss seines umfassenden Wissens über diesen Ort der Begegnung in Bebra.

Dass dieser historische Ort ziemlich „frisch“ erscheint, hat einen Grund. Denn das „Inselgebäude“ im Bahnhofsarreal erstrahlt nach mehrjähriger und aufwändiger Sanierung wieder in neuem Glanz. Peter Kehm führt uns durch die Ende 2021 eröffnete Dauerausstellung in drei großen Ausstellungsräumen mit 600 m2 inkl. Kino und Zeitzeugenkino. Ein 20 m2 großes Modell mit Fahrbetrieb veranschaulicht Struktur und Funktionsweise des gesamten Arreals, eine Bahnsteigtheke bildet Warten und Konsumieren in Zeit um 1900 ab. Beim Betreten des als Warteraum inszenierten Ausstellungssaal 2 fällt der Blick der Gäste sofort auf die riesige, mit schönen alten Reisekoffern dekorierte Wand. Exponate in als Vitrine geöffnete Koffer informieren über persönliche Schicksale von Reisenden. Und Reisende gab es jede Menge am Bahnhof Bebra – zu Kaiserzeiten, im Kalten Krieg bis heute. Darunter waren u.a. Verwandte in Ost und West oder Prominente und Politiker wie Willy Brandt, der 1970 von der ersten Reise eines Bundeskanzlers zum Gipfeltreffen in der DDR hier Station machte. Auch von DDR-Seite unerwünschte „Reisegäste“ waren dabei, Peter Kehm zeigt anhand eines Modells mit detailgetreuen, Fahrzeugen, Zäunen, Türmen und Figuren mögliche Fluchtwege zwischen Ost- und Westdeutschland auf und wie diese bewacht wurden. Im Zeitzeugenkino kommen dann reale Personen über ihre Erfahrungen an den Grenzbahnhöfen Bebra und Gerstungen zu Wort.

Alles Gude in Kassel: Hotel, Bergpark und Grimmwelt

Unsere Erfahrungen in Bebra werden nach der Führung um ein aktives Kapitel erweitert, denn wir starten von hier aus per Regionalzug nach Kassel-Wilhelmshöhe, der finalen Station der Infotour in Nordhessen. Kassel gilt nicht nur als heimliche Hauptstadt der GrimmHeimat Nordhessen, die Stadt bietet einen vielfältigen Kulturgenuss und ist gleich doppelt mit dem Titel UNESCO-Welterbe dekoriert. Und ja, Kassel ist zudem documenta-Stadt, auch wenn der weltweit wohl bedeutendste Ausstellungsreigen für moderne Kunst bei der diesjährigen Ausgabe nicht nur positive Schlagzeilen schrieb und eine neue Diskussion über Zensur in der Kunst auslöste. Als wichtige Station in Leben und Werk der Brüder Grimm fungiert Kassel auch als Zentrum der Sprachkultur in Deutschland. Denn Jacob und Wilhelm Grimm sind dank ihrer Sammlungen der Kinder- und Hausmärchen nicht nur die berühmtesten „Märchenonkel“ weltweit, sondern haben mit dem Deutschen Wörterbuch das umfangreichste gedruckte Nachschlagewerk dieser Art veröffentlicht.


Doch bevor wir in die Welt der Brüder Grimm eintauchen, genießen wir beim Mittagsimbiss den Blick auf den Bergpark Wilhelmshöhe. Wohlwissend, dass es im Anschluss aufwärts geht in das 2013 zum UNESCO-Welterbe ernannte anmutig schöne Gelände. Aber der Spaziergang vorbei an Wasserfällen, Wasserspielen, Zierpflanzen und uralten Baumriesen ist eine wahre Freude, man könnte definitiv länger hier flanieren und die Schönheit von Europas größtem Bergpark genießen.


Doch die „Alten Meister“ warten auf uns. Die gleichnamige Gemäldegalerie ist zusammen mit der Antikensammlung das Prunkstück der Ausstellung im klassizistischen Schloss Wilhelmshöhe, das ebenfalls zum UNESCO-Welterbe zählt. Wow, die Fülle an bedeutenden und weltberühmten Gemälden z.B. von Rubens, Hals, Dürer oder Altdorfer ist beeindruckend. Rembrandts hier verewigte Bilder zählen gar zur bedeutendsten und größten Sammlung in Deutschland. Auch hier kann man locker eine paar Stunden verbringen.


Auch den Abend kann man getrost mit dem hessischen Wort „Gude“ (gut), gleichsam als Begrüßungsformel vergleichbar mit dem norddeutschen Moin) zusammenfassen. Denn unser Domizil hört ebenfalls auf den Namen Gude. Das Vier-Sterne-Superior-Hotel wird seit mehr als 75 Jahren von der Familie Gude geführt, selten passen Name und Konnotation so gut zusammen wie hier. Nach Begrüßung und kurzer Hausführung seitens der Geschäftsführung starten wir an der Bar mit einem fruchtigen Cocktail in Eigenkreation. Das Abendessen im Haus ist vom Feinsten, dem Zimmer gelingt der Spagat zwischen riesengroß und gemütlich vortrefflich.


Nach einer erholsamen Nacht machen wir uns auf zur letzten Station der Infotour in die Grimmwelt Kassel. Das 2015 eröffnete und mehrfach ausgezeichnete Ausstellungshaus präsentiert auf unterhaltsame und lehrreiche Weise in 25 Stationen die drei Kernbereiche Deutsches Wörterbuch, Kinder- und Hausmärchen sowie den Werdegang der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Jede Station führt ihr „Eigenleben“, d.h. hinter jeder Ecke lauert ein Aha-Effekt, es darf bewundert, gestaunt und gelacht werden. Für alle Altersklassen gibt es eine Fülle an Dingen zum Ausprobieren und mitmachen, Besucher, die es ruhiger und mehr zum Nachlesen haben wollen, werden ebenfalls bestens versorgt. Wer Märchen oder Wörterbücher bisher als antiquiert oder nostalgisch betrachtet hat, kann sich in der Grimmwelt davon überzeugen, dass diese auch in der Gegenwart ihre Reize haben und mitunter nach wie vor einen Zauber entfalten.

Tischlein deck dich – Märchenhafte Wandinstallation von Antoni Miralda in der Grimmwelt Kassel

In diese Kategorie fallen auch die bunten Wurzeln, die Chinas bekanntester Künstler Ai Weiwei der Grimmwelt 2015 geschenkt hat und die unübersehbar im Foyer des Ausstellungshauses platziert sind. Dieses ist ebenso wie das Cafe-Restaurant Falada mit tollem Ausblick frei zugänglich.
So spektakulär wie innen ist das Haus auch außen. Als begehbare Skulptur entwickelt die Grimmwelt auch outdoor ihre Faszination, eine öffentlich zugänglich Treppenanlage für zur 2000 m2 großen Dachterrasse, die zusammen mit der Außengastronomie nicht nur ideal für Events aller Art ist, sondern auch einen spektakulären Ausblick auf die Südstadt Kassels bietet. Mit einem Wort: Märchenhaft! Es war einmal? Einmal ist keinmal, ich komme garantiert wieder nach Nordhessen…

Bild oben: Schloss Wilhelmshöhe in Kassel
Bildquelle: Ralf Theisen



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